Manfred Pfister, Das Drama (1977)
Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 1984, 1982.
79: 3.4 DIE RELATIONEN ZWISCHEN FIGUREN- UND ZUSCHAUERINFORMIERTHEIT
- 3.4.1 Diskrepante Informiertheit
80 Discrepant awareness (nach Bertrand Evans): "Es läßt sich [...] in jeder Situation des Textablaufs für [81] jede dramatische Figur die Summe der Informationen angeben, von der aus als faktischer Basis sie die jeweilige Situation beurteilt. Durch die diskrepante Informiertheit wird also ein und dieselbe Situation von den beteiligten Figuren unterschiedlich beurteilt. 81 3.4.1.1 Informationsvorsprung der Zuschauer quantitativ dominierend. 83 3.4.1.2 Informationsrückstand der Zuschauer 84 Der zerbrochene Krug. 85 Ibsen; meist werden allerdings gegenläufige Strukturen der Informiertheit kombiniert. Technik: "Reduktion der Mitteilungsmöglichkeiten der dramatischen Figur: der Informationsträger bleibt opak" 86 3.4.2 Kongruente Informiertheit tritt auf in einzelnen Textphasen oder nur in der Relation zwischen einer Figur und dem Publikum. konsequent nur vereinzelt: etwa in Waiting for Godot. 87 3.4.3 Dramatische Ironie 88 beruht auf der "Interferenz von innerem und äußerem Kommunikationssystem" "tritt immer dann auf, wenn die sprachliche Äußerung oder das außersprachliche Verhalten einer Figur für den Rezipienten aufgrund seiner überlegenen Informiertheit eine der Intention der Figur widersprechende Zusatzbedeutung erhält". <Bsp: honest Iago> [...] 122 3.7 SUKZESSION UND INFORMATIONSVERGABE 3.7.1 Simultaneität und Sukzession 124 3.7.2 Informationsvergabe am Drameneingang 3.7.2.1 Exposition und dramatischer Auftakt Exposition: primär informativ-referentielle Funktion Auftakt: darüber hinaus die phatischen Funktionen der Aufmerksamkeitsweckung des Rezipienten und der atmosphärischen Einstimmung auf die Spielwelt. 125 3.7.2.2 Initial-isolierte vs. sukzessiv-integrierte Exposition 126 (zu letzerem gehören auch analytische Struktur im Drama und Anagnorisis) 127 3.7.2.3 Dominanter Zeitbezug dominanter Vergangenheitsbezug: expositorische Informationsvergabe dominiert den Kontext, Gegenwart der dramatischen Situation bleibt ihr untergeordnet. (Extrembeispiel: Prolog). dominanter Gegenwartsbezug: "expositorische Informationsvergabe durch die gegenwärtige dramatische Situation motiviert", "ihr funktional untergeordnet". 128 dominant futurischer Bezug: 129 (Bsp: Hexen am Anfang von Macbeth) 130 3.7.2.4 Monologische vs. dialogische Vermittlung monologisch: durch spielexterne Figur: Prolog(figur). duch spielinterne Figur: nicht so isoliert, Übergang kann fließend gestaltet werden. 132 dialogisert: am einfachsten durch 'protatische Figur' 132f frz. Tragödie: Held-confident 133f komplexer: Integration in richtigen Dialog der Figuren. Bsp. Hofmannsthals Der Schwierige 135 => "perspektivische Exposition": "wenn [der] prinzipiell gegebene Perspektivismus durch ein Arrangement von miteinander korrespondierenden und kontrastierenden perspektivischen Rückwendungen bewußt gemacht wird. 3.7.2.5 Deskriptive vs. normative Theorie der Exposition. die drei genannten Kriterien sollen nicht der ästhetischen Wertung dienen. 136 3.7.2.6 Außersprachliche expositiorische Informationsvergabe; point of attack und Exposition 137 später point of attack: "der dramatisch präsentierten Eingangssituation geht eine umfangreiche Vorgeschichte voraus" => große Menge von Informationen ist expositorisch zu vermitteln. früher point of attack: Einsatzpunkt der dramatisch präsentierten Handlungsphasen fällt mit dem Anfang der Geschichte zusammen. 3.7.3 Informationsvergabe am Dramenende Aristoteles: Lusis, Peripetie, Anagnorisis, Katastrophe 138 Lateinische Theoretiker: solutio, inversio. Frz. Klassik: Dénouement. 3.7.3.1 Geschlossenes Dramenende Anagnorisis, solutio, Dénouement: Informationsdiskrepanzen zwischen den Figuren selbst und zwischen Figuren und Publikum werden abgebaut. => "geschlossenes Dramenende" 140 3.7.3.2 Offenes Dramenende Informationsdiskrepanzen bleiben bestehen, Funktion unterschiedlich. [...] 180 4.5 MONOLOGISCHES SPRECHEN 4.5.1 Monolog und Dialog 4.5.1.1 Situative und strukturelle Differenzkriterien —situativ: Einsamkeit des Sprechers, Selbstgespräch (engl: soliloquy) [binäre Klassifikation: ja oder nein] —strukturell: Umfang und in sich geschlossener Zusammenhang einer Replik (engl: monologue) [Skalierung: mehr oder weniger]. 181 4.5.1.2 Monolog vs. Monologhaftigkeit, Dialog vs. Dialoghaftigkeit Dialog- bzw. Monologhaftigkeit etc. ergibt sich aus dem 'mehr oder weniger' der strukturellen Beschreibung. Nach Mukarovský bringt jeder Sprecher seinen eigenen Kontext in den Dialog ein. Im Dialog prallen also die Kontexte aufeinander. (Ableitung des strukturellen Kriteriums aus dem situativen). 182 auch in der Rede der einzelnen Figur können sich mehrere Kontexte durchdringen. => je mehr semantische Richtungsänderungen, desto mehr Dialogizität. 4.5.1.3 Monologisierung des Dialogs idealtypischer "dialoghafter Dialog": "störungsfreie Zwei- oder Mehrwegkommunikation zwischen zwei oder mehreren Figuren, die zueinander in einem Verhältnis der Polarität und Spannung stehen, in ihren Repliken ständig aufeinander Bezug nehmen und aufgrund prinzipieller Gleichberechtigung einander jederzeit unterbrechen können, so daß sich eine ausgewogene quantitative Relation ihrer Repliken ergibt" Monologisierung: als Resultat gestörter Kommunikation 183 als Resultat des vollständigen Konsensus zwischen Figuren. 184 als Resultat der Dominanz einer Figur. 4.5.1.4 Dialogisierung des Monologs Anrede, Apostrophe (an eine Gottheit). Selbstapostrophierung (innerer Dialog). 185 Wendung ans Publikum. sie etabliert aber im ad spectatores ein episches Kommunikationssystem. 4.5.2 Monolog 4.5.2.1 Konvention vs. Motivation "Der Monolog beruht primör auf einer Konvention, einer nicht ausgesprochenen Übereinkunft zwischen Autor und Rezipient, daß eine Dramenfigur im Gegensatz zu einem wirklichen Charakter laut denkt, mit sich [186] selbst spricht." 186 In der Realität: pathologisch "Die Konvention bezieht ihre Rechtfertigung nicht aus einem mimetischen Wirklichkeitsbezug [...], sondern aus den Funktionen, die sie zu erfüllen vermag." nämlich solche, "wie sie in narrativen Texten meist durch das vermittelnde Kommunikationssystem des Erzählers erfüllt werden" (soll dessen Abwesenheit kompensieren). daneben: strukturell gliedernde Funktion: —Brückenmonolog, der Szenen verbindet. —Auftrittsmonolog: Vorbereitung von Handlungsentwicklungen. —Abgangsmonolog: Zusammenfassung von Handlungsentwicklungen. —Binnenmonolog: Retardierendes Moment, Schafft reflektierende Distanz. 187 historisch: schon im 17. und 18. Jahrhundert "Vorbehalte gegenüber dem Artifiziellen dieser Konvention" Realismus und Naturalismus: explizite poetologische Ablehnung. (Bsp: Ibsen, Brand) zugleich: Weiterverwendung des motivierten Monologs (Strindberg, Fräulein Julie) 188 => Monolog wechselt vom äußeren ins innere Kommunikationssystem des Texts; eine monologisierende Figur wird nun schon dadurch charakterisiert. 189 4.5.2.2 Disposition vs. Spontaneität 190 konventionelle Monologe tendieren zu klarer Disposition, motivierte zu Ungeordnetheit. 4.5.2.3 Aktionale vs. nicht-aktionale Monologe aktionaler Monolog: im Sprechen vollzieht sich Handlung als Situationsveränderung 191 nicht-aktional: informierende vs. kommentierende. 192 4.5.3 Beiseite-Sprechen 4.5.3.1 Monologisches Beiseite: Konvention vs. Motivation - an kein Gegenüber auf der Bühne gerichtet. - Sprecher aber nicht allein - Sprecher ist sich der Gegenwart anderer Personen bewußt. 193 Motiviert: Dialogpartner bemerkt die Reaktion des Beiseitesprechenden, verstedht aber die Worte nicht. 194 4.5.3.2 Beiseite ad spectatores Beiseitesprechender hat epische Vermittlungsfunktion. 195 4.5.3.3 Dialogisches Beiseite meist konspiratives Sprechen oder Sprechen in Belauschungssituation. [...] 240 5.4 FIGURENKONZEPTION UND FIGURENCHARAKTERISIERUNG zwei Ebenen: Figurenkonzeption = "das anthropologische Modell, das der dramatischen Figur zugrundeliegt, und die Konventionen seiner Fiktionalisierung" Figurencharakterisierung = "die formalen Techniken der Informationsvergabe, mit denn die Figur präsentiert wird. 241 sind interdependent.
5.4.1 Figurenkonzeption 5.4.1.1 Drei Dimensionen (nach B. Beckermann, Dynamics of Drama): Weite: Bandbreite der Entwicklungsmöglichkeiten einer Figur Länge: von der Figur zurückgelegte Entwicklung Tiefe: Beziehung zwischen dem äußeren Verhalten und dem inneren Leben.
5.4.1.2 Statische vs. dynamische Figurenkonzeption 242 Historisch unterschiedlich gewertet, häufig gattungsbedingt. 243 5.4.1.3 Ein- vs. mehrdimensionale Figurenkonzeption (nach E.M. Forster, Aspects of the Novel: "flat vs. round characters") 244 5.4.1.4 Personifikation — Typ — Individuum sind wichtige Zwischenformen der Dimensionalität der figur. Personifikation: Figur weist nur einen Merkmalsbereich auf. 245 Typ: repräsentiert "soziologische und/oder psychologische Merkmalskomplexion". Individuum: Person wird einmalig und unwiederholbar gezeichnet, vielfältig spezifiziert. 246 5.4.1.5 Geschlossene vs. offene Figurenkonzeption offen: irreduzible Mehrdeutigkeit geschlossen: a. explizit definiert; b. impliziert, aber gleichwohl vollständig ergänzbar definiert. 247 5.4.1.6 Transpsychologische vs. psychologische Figurenkonzeption 249 5.4.1.7 Identitätsverlust "das radikalere Phänomen der sinnfälligen Auflösung der Identität von Figuren für den Rezipienten" (modernes Phänomen) 250 5.4.2 Figurencharakterisierung 5.4.2.1 Repertoire der Charakterisierungstechniken 251 5.4.2.2 Explizit-figurale Charakterisierungstechniken Eigenkommentar; Fremdkommentar. ..... 252 Verzweigungsdiagramm der Techniken der Figurencharakterisierung [...] 265 6. GESCHICHTE UND HANDLUNG 6.1. GESCHICHTE, HANDLUNG UND SITUATION 6.1.1 Geschichte 6.1.1.1 Geschichte als Substrat von dramatischen und narrativen Texten Drei Elemente erforderlich für Geschichte: —ein oder mehrere menschliche bzw. anthropomorphe Subjekte; —temporale Dimension der Zeiterstreckung; —spatiale Dimension der Raumausdehnung. Makrostrukturelle Abgrenzung von Argumentation und Deskription. 266 Auf der Ebene des Dargestellten, nicht der Darstellung situiert. "das Gerüst der invarianten Relationen, das allen realisierten und möglichen Darstellungen gemeinsam ist". Inhaltsangabe.
6.1.1.2 Geschichte vs. Fabel/Mythos/plot Fabel: Ebene der Darstellung — kausale und andere sinnstiftende Relationierungen, Phasenbildung, zeitliche und räumliche Umgruppierungen 268 6.1.2 Handlung 269 6.1.2.1 Handlung — Handlungssequenz — Handlungsphase 6.1.2.2 Handlung vs. Geschichte Handlung: "absichtsvoll gewählte, nicht kausal bestimmte Überführung einer Situation in eine andere" (A.Hübler). => triadische Struktur: Ausgangssituation, Veränderungsversuch, veränderte Situation. (vgl Bremond: "Dreischritt von einer Situation, die eine Hanldungsmöglichkeit eröffnet, über die Aktualisierung dieser Möglichkeit zur erfolgreichen Situationsveränderung") 270 "'Geschichte erweist sich also als der weitere Begriff, wobei Handlung durch die differentia specifica einer intentionalen Situationsveränderung von anderen Formen oder Bestandteilen von Geschichte abgegrenzt wird." 6.1.2.3 Handlung vs. Geschehen diese anderen heißen: "Geschehen": "Geschichte oder Teile von GEschichten, in denen entweder die menschlichen Subjekte unfähig zu einer intentionalen Wahl sind oder die Situation sich jeder Veränderung entzieht". 271 vor allem in der Moderne; Bsp. Becketts "Reduktion der Geschichte auf Geschehensabläufe". 6.1.3 Situation ist auf der Geschichtsebene anzusiedeln (nicht auf der Darstellungsebene) 272 Ist das Moment des Konflikts als konstitutiv zu sehen? Situation kann konfliktfrei oder konflikthaft strukturiert sein; nur letztere erlaubt situationsveränderndes Handeln; konfliktfrei=>Geschehen oder Intervention von außen.
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