Giovanni Boccaccio, Il Decamerone (1351)

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Autor

Giovanni Boccaccio (1313-1375)

Zum Titel

  • "Comincia il libro chiamato Decameron, cognominato Prencipe Galeotto, nel quale si contengono cento novelle, in diece di dette da sette donne e da tre giovani uomini" ("Es beginnt das Buch, Dekameron genannt, mit dem Beinamen ‚Fürst Galeotto', worin hundert Novellen enthalten sind, die binnen zehn Tagen von sieben Frauen und drei jungen Männern erzählt werden")
  • griechisch ‚deka hemerai' = 10 Tage, aber sprachliche Verballhornung (eigentlich: Dechemeron)
  • Titel geht zurück auf die Vorbilder Hexaemeron von Baileos dem Großen (Mitte 4.Jh.) bzw. des Hl. Ambrosius (nach 388), hier: Sechstagewerk der Weltschöpfung
  • Galeotto war König Galahot (Galehaut) des franz. Prosa-Lancelot
  • Buch ist als Trostbuch und Erbauungsbuch für Frauen gedacht

Gattung

  • Novellenzyklus
  • Novelle, hier: Vielfalt erzählender Kurzformen
  • Spezifische Funktion in der zeitgenössischen Literatur: das religiös-moralische Exemplum, Anekdote, das märchenartige Lai, das derb-komische Fabliau etc.
  • Mehrdeutigkeit der Gattung: Multifunktionalität
  • Der Leser muss sich selbst ein Urteil bilden
  • Das Novellenerzählen bekommt die Funktion, Wirklichkeitsentwürfe zu erproben

Entstehungsgeschichte

  • Erste Ansätze schon um 1335
  • Wesentliche Ausgestaltung ab 1340/41 (Rückkehr aus Neapel nach Florenz)
  • Abrundung nach der großen Pest (1348)
  • Ab 1351 Vollendung
  • Schon vor der Vollendung Teile im Umlauf (vgl. Einleitung 4.Tag)

Stoffgeschichte

  • Zahl 100: Sammlung der Ciento novelle antike (=Novellino, Ende des 12.Jh.); 100 Gesänge bei Dante
  • Quellen und Vorbilder: Metamorphosen des Apuleius, Dolopathos des Johannes de Alta Silva (um 1200), arabisch-orientalische Erzählungen, Antikes, mittelalterliche narrative, religiöse und Chronik-Literatur in lateinischer, französischer, provenzalischer oder italienischer Sprache
  • Neun zehntel des Stoffes zurückzuführen auf verschiedene Überlieferungen, z.B. Antike, mittelalterliche (bes. franz.) Legenden- und Schwankliteratur, ältere italienische Erzähltradition und Lokalgeschichte
  • Wichtig: Boccaccio erzählt nicht nach, sondern erreicht künstlerische Umgestaltung

Wirkungsgeschichte

  • Boccaccios Hauptwerk in italienischer Sprache bei den Zeitgenossen ebenso beliebt wie umstritten
  • Geistlichkeit hat ihm das Dekameron nicht übel genommen
  • In Italien und ganz Europa zum Modell der zyklisch strukturierten Novellensammlung
  • Anfänglicher Kritik der Frivolität und mangelnder Moral, begegnet Boccaccio mit einer Entfernung von didaktischen Ziele hin zu einem ästhetischen Anspruch des Werks (vgl. 1. Tag: Belehrung durch Unterhaltung und 4. Tag: Antwort auf Kritik in der Einleitung)
  • Wirkt auf die Erzählkunst der Autoren des 14. bis 16. Jh. In Italien, Frankreich, Spanien etc.
  • Renaissance: Hervorgehung als Meisterwerk; Boccaccio, Dante und Petrarca als Wegbereiter ihrer Zeit
  • Heute: Dekameron als Ursprung der italienischen Prosa überhaupt
  • Bedeutender Einfluss auf Weltliteratur: Cervantes, Rabelais, Shakespeare, Hans Sachs, Lessing (die Ringparabel)

Epoche

spätes Mittelalter, Anfang Renaissance; Wegbereiter des Frühhumanismus

Aufbau

  • Rahmen- und Binnenhandlung
  • Detaillierter Bericht über die Pest und ihre Konsequenzen
  • Einteilung in 10 Tage mit je 10 Geschichten von 10 Personen erzählt
  • An jedem Tag eine andere Person als KönigIn, bestimmt den Tagesablauf und Thema der Geschichten
  • mit Ausnahme von zwei Tagen (dem ersten und neunten) stehen die Novellen eines Tages unter einem gemeinsamen Thema (Dioneo hat immer freie Themenwahl)
  • Geschichtenfolge: 3 Frauen - 1 Mann - 2 Frauen - 1 Mann - 2 Frauen - 1 Mann
  • Ende jeden Tages dreigliedrig: Festsetzung des Themas für den folgenden Tag, Aufbruch und restlicher Tagesablauf, Verabschiedung zur Nacht mit einer ballata
  • jeder Endzyklus schließt mit einer Ballade, die wiederum stets von einer anderen der Personen angestimmt wird (thematische Gruppe: 3 allegorische - 4 Liebesklagen - 3 Jubelgesänge)
  • moralische Spannung zwischen der ersten Novelle mit ihrer größtmöglichen Anhäufung von Lastern und Sünden in der Gestalt des Ser Cepparello und der letzten, die in der Figur der Griselda eine geradezu übermenschliche Tugend darstellt; wesentliches Strukturprinzip: Kontrast und Mischung von Gegensätzen
  • Boccaccio: wer diese Geschichten mit verdorbenem Gemüt liest, hält sie für verwerflich
  • 1.Tag (Königin = Pampinea):
1. Geschichte: Herr Chapelet täuscht einen frommen Pater durch eine falsche Beichte und stirbt. Trotz des schlechten Lebenswandels, den er geführt, kommt er nach seinem Tode in den Rufe der Heiligkeit und wird Sankt Chapelet genannt (Wertungen gehen auf Urteil des Betrachters zurück, nicht auf die Eigenschaft selbst)
2. Geschichte: Der Jude Abraham geht auf Antrieb des Jeannot von Sevigné nach Rom und kehrt, als er die Schlechtigkeit der Geistlichen dort kennen gelernt hat, nach Paris zurück, um Christ zu werden.
3. Geschichte: Der Jude Melchisedech entgeht durch eine Geschichte von drei Ringen einer großen Gefahr, die ihm Saladin bereitet hat.
4. Geschichte: Ein Mönch befreit sich von einer schweren Strafe, die er verwirkt hat, indem er seinem Abte dasselbe Vergehen auf geschickte Weise vorhält.
5. Geschichte: Die Markgräfin weist die törichte Liebe des Königs von Frankreich durch ein Hühnergericht und ein paar hübsche Worte zurück.
6. Geschichte: Ein wackerer Mann beschämt durch einen guten Einfall die Heuchelei der Mönche.
7. Geschichte: Bergamino beschämt auf feine Weise Herrn Cane della Scala wegen einer plötzlichen Anwandlung von Geiz, indem er ihm eine Geschichte von Primasseau und dem Abt von Clugny erzählt.
8. Geschichte: Guiglielmo Borsiere straft mit feiner Rede den Geiz des Herrn Ermino de´Grimaldi.
9. Geschichte: Aus dem schwachen König von Zypern wird durch den Spott einer Edeldame aus der Gaskogne ein entschlossener Herrscher.
10. Geschichte: Meister Alberto von Bologna beschämt auf feine Weise eine Dame, die ihn wegen seiner Liebe zu ihr beschämen wollte.
  • 7.Tag (König = Dioneo):
direkt am See im dritten Garten, unter Lorbeerbäumen: die Kunst (Lorbeer) hat ihre Aufgabe erkannt, auf die menschliche Natur (Wasser) einzugehen und nicht wie üblich sie zu überwinden
1. Geschichte: Gianni Lotteringhi hört des Nachts an seiner Tür klopfen, weckt seine Frau und lässt sich von dieser weismachen, es sei ein Gespenst. Beide machen sich daran, dies mit einem Gebet zu beschwören, und das Klopfen hört auf.
2. Geschichte: Peronella versteckt, als ihr Gatte plötzlich nach Hause kommt, ihren Geliebten in einem Weinfass. Der Mann sagt ihr, er habe das Fass verkauft, sie antwortet aber, dass sie den Handel schon mit einem andern abgeschlossen habe, der eben hineingekrochen sei, um seine Festigkeit zu prüfen. Nun kommt dieser heraus, lässt das Fass noch vom Gatten ausschaben und dann in sein Haus bringen.
3. Geschichte: Bruder Rinaldo schläft bei seiner Gevatterin. Der Mann überrascht sie in der Kammer, und man macht ihm weis, dass jener seinem Patenkind die Würmer besprochen habe.
4. Geschichte: Tofano sperrt eines Nachts seine Frau aus dem Hause au. Da sie auf ihre Bitten hin keinen Einlass erhält, tut sie, als stürze sie sich in einen Brunnen, indem sie einen großen Stein hineinwirft. Tofano kommt hierauf aus dem Hause, die Frau schleicht sich hinein und sperrt nun ihn aus, wobei sie ihn zugleich ausschilt und verhöhnt.
5. Geschichte: Ein Eifersüchtiger hört, als Priester verkleidet, seiner Frau die Beichte. Sie macht ihm weis, sie liebe einen Geistlichen, der jede Nacht zu ihr komme. Während der Eifersüchtige diesem an der Tür auflauert, lässt die Frau ihren Liebhaber über das Dach zu sich kommen und vergnügt sich mit ihm.
6. Geschichte: Während Madonna Isabella den Lionetto bei sich hat, wird sie von Lambertuccio, der sie ebenfalls liebt, besucht. Da ihr Gatte zurückkehrt, schickt sie den Lambertuccio mit einem Dolch in der Hand aus dem Haus, worauf ihr Mann den Lionetto heimbegleitet.
7. Geschichte: Lodovico offenbart Madonna Beatrice seine Liebe. Sie schickt Egano, ihren Gatten, in ihren Kleidern in den Garten, während Lodovico sie beschläft. Dann steht dieser auf verprügelt im Garten den Egano.
8. Geschichte: Ein Ehemann wird eifersüchtig auf seine Frau. Sie wickelt sich einen Bindfaden um die Zehe, um gewahr zu werden, wann ihr Geliebter kommt. Der Mann merkt es. Während er aber den Liebhaber verfolgt, legt die Dame an ihrer Statt eine andere ins Bett, die vom Manne geprügelt wird und die Haare abgeschnitten bekommt. Dann eilt er zu ihren Brüdern, die ihn ausschelten, als sie finden, dass alles unwahr ist.
9. Geschichte: Lydia, die Gattin des Nikostratus, liebt den Pyrrhus. Um an ihre Liebe glauben zu können, fordert er drei Dinge von ihr, die sie alle vollbringt. Überdies ergötzt sie sich in Anwesenheit des Nikostratus mit ihm und macht diesem weis, es sei nicht wahr, was er mit eigenen Augen gesehen.
10. Geschichte: Zwei Sineser lieben eine Frau, die des einen Gevatterin ist. Der Gevatter stirbt, erscheint, seinem Versprechen gemäß, dem Gefährten und berichtet ihm, wie es dort im Jenseits zugeht.
  • Anfang 9. Tag: Umkehrung zu Dante: wilde Tiere im Wald sind zahm und furchtlos Kultur und Natur sind nicht mehr in Feindschaft (Eichenlaubkronen = Emblem der Sieger)
  • Drei Gärten:
1.locus amoenus in der Tradition der konventionellen Liebesgärten (Lorbeerkranz: Geschichtenerzöhlen wird zum Tagesprogramm Dichterkrönung)
2.die perfekte Schönheit, doch alles ist künstlich, vom Menschen gemacht
3.perfektes Kunstwerk, doch nicht künstlich, Natur zeigt wie schöne sie selbst Harmonie hervorbringen kann; Geistige Eingriffe in die Natur sollen sie beschützen, nicht bewachen

Figurenkonstellation

  • gutsituiertes Bürgertum; ‚brigata' (keine Standes- , Alters-, Reichtum-, Bildungsunterschiede; jeder ist zugleich Souverän und Untertan zugleich)

sieben Frauen=sieben freie Künste

  • Pampinea (die Blühende; eine reife, ausgewogene Natur),
  • Fiammetta (die Vollkommene, die dennoch um die Treue ihres Liebhabers besorgt ist),
  • Filomena (die Temperamentvolle, doch Beherrschte),
  • Emilia (die in ihre eigene Schönheit Verliebte),
  • Lauretta (die Eifersüchtige),
  • Neifile (die Neugierige, die naiv Lüsternde),
  • Elissa (die unglücklich Liebende)

drei Männer=drei Kardinaltugenden

  • Panfilo (der jugendliche Verehrer),
  • Filostrato (der von Liebekummer Verzehrte),
  • Dioneo (der frohgemute Lüstling)
  • Figuren größtenteils aus seinen früheren Werken entnommen: Figuren einer literarischen Welt (bes. Fiammetta: Figur in fast allen seinen Werken)
  • Charaktere sind nur skizziert; sie sind mehr Symbole einer Verhaltensweise oder Seelenlage als wirkliche Personen
  • Am ehesten individuelle Züge tragen Fiammetta und Dioneo (Selbstportrait Boccaccios)
  • Funktion der Figuren: den Grundton der Novellen, die am Tage ihres Vorsitzes erzählt werden, anzudeuten und umgekehrt: ihr Charakterbild wird durch die Art der Novellen ergänzt
  • Figuren der Binnenhandlung: Fülle von Gestalten, Menschen aller Schichten und aller erdenklicher Natur

Handlungszeit/-ort

  • Rahmenhandlung: Ort - Florenz, Kirche Maria Santa Novella zur Zeit der Pest (~1348)
  • Landsitz: ab einem Mittwoch 14 Tage (Freitag und Samstag kein Erzählen wegen religiöser Bedeutung: Fasten)
  • Binnenhandlung: Schauplatz - Florenz oder Toscana, manchmal jedoch auch ganz andere Orte: Flandern, Paris, Ägypten, Marocco, Babylon usw.; fiktive Zeit (MA)

Erzählsituation

  • Ich-Erzähler der Rahmenhandlung (extradiegetisch, heterodiegetisch, externe Fokalisierung)
  • 2. Ebene: Figuren erzählen als intradiegetische, heterodiegetische Ich-Erzähler
  • 3. Ebene: teilweise Binnenerzählungen (hypohypodiegetische Ebene)
  • erzählte Zeit dauert 14 Tage, Zeitraffung; Geschichten der zweien Ebene zeitdeckend erzählt; dritte Ebene: Zeitraffung

Sprache/Stil

  • alle verfügbaren stilistischen Register von einer einfachen, alltagsnahen, jedoch niemals derben Sprache bis hin zu stilistisch und syntaktisch komplexen Ausdrucksformen
  • Das Dekameron ist ein Durchspielen von Erzählweisen wie Lebenshaltungen; gibt aber keine Antworten
  • Unterscheidung zwischen
  • Binnen- (ungeschmückte Schilderung menschlichen Lebens)
  • und Rahmenhandlung (vornehme Atmosphäre der Welt der edlen Damen und Jünglinge)
  • aus den drei Stillagen wählt Boccaccio die mittlere (=mediocre), Kompromiss aus Belehrung und Unterhaltung
  • Erzählweise: vielfältig; feierlicher, weit ausholender hypotaktischer Satzbau; parataktischer Satzbau im die Handlung vorantreibenden Bericht; spritzige, lebensechter Dialog
  • Dezente Wortwahl, alles Anstößige wird durch Periphrasen /bildhafte Ausdrücke ersetzt (führt vielfach zur Komik)

Stimmung

  • Im Gesamtton edler Vornehmheit, aber auch Lustigkeit, Situationskomik, Freude am Dasein (kontrastiv dazu: die Pest)

Motive und Themen

  • Eros und Intelligenz als Hauptmotive
  • das Leben in der irdischen Schöpfung
  • das Erzählen selbst als schöpferische Leistung des Autors wie seiner fiktiven Figuren (Rahmenhandlung)
  • typische Stoffe mittelalterlicher Schwankliteratur: Sinnenfreude, Satire auf das asketische Leben, Kritik am bigotten Klerus
  • paradigmatische Auseinandersetzung mit einer zeitgenössischen Wirklichkeit (Interessensvielfalt, -konkurrenz, -konflikt)
  • tugendhaftes und lasterhaftes Leben, tragisches und komisches Geschehen, hohe und niedrige Gegenstände, Spaß und bissige Zeitkritik

Symbole

  • Zahlensymbolik, Namenssymbolik, Farbsymbolik
  • Eichenlaubkränze sind das Emblem der Sieger
  • Geschichtenverlauf vom vermeintlich Schlechten (1.Novelle) bis fast unmenschlich Tugendhaftem (letzte Novelle) symbolisiert Entwicklung der Figuren
  • Garten (Lustgärten / Aufbau)
  • Pest: Chaos der Leidenschaften, Zusammenbrechen der bürgerlichen Ordnung
  • "brigata" als Mikrogesellschaft, die nicht mit Extremen reagiert (weder Sinneslust, noch Askese)
  • Schlüsselwörter: ragione (Vernunft) und onestà (Ehrbarkeit)

Specials

  • Entwurf einer neuen Weltordnung
  • Kultur und Natur in Harmonie
  • Steht im Gegensatz zur zeitgenössisch geforderten Vergeistigung
  • Gegen extreme Askese zum einen und Auslebung der Sinnesfreude zum anderen
  • Struktur: Aufbau der Rahmen- und Binnenhandlung
  • Selbstrechtfertigung im Rahmenteil zu Beginn des 4.Buches (Erzählung von den Gänsen): Boccaccio nimmt Geschlechtstrieb als natürliche Gegebenheit hin (weder gut noch schlecht, sondern Lebenskraft)
  • Dichterkrönung: Erhöhung des Dichterstatus
  • Das erste große Prosawerk der italienischen Dichtung
  • Dekameron fördert die Tradition der Novellistik, ist aber nicht ihr Auslöser

Verschränkungen

  • Dante, Göttliche Komödie: Dekameron als "comedia umana", 100 Gesänge ~ 100 Novellen, mittelalterliche Symbolik, Dante: Kontrast zwischen der Diesseitigkeit des Decameron und der jenseitsorientierten Commedia
  • Chaucer, The Canterbury Tales: Themen und Motive, Rahmenhandlung der geschichtenerzählenden Pilger
  • Cervantes, Don Quijote: Metafiktion (Autor meldet sich zu Wort)
  • Goethe, Faust: Mischung von hoher und derber Handlung, Rahmen- und Binnenhandlung, Vielfalt an Figuren